Die Welt ist laut und hektisch. Kein ideales Umfeld für die „Stillen“ unter den Führungskräften. Ihre Rolle ist mental und psychisch ein holziger Weg. Ihre Performance sticht nicht offensiv ins Auge. Die Schätze und Potenziale der „Stillen“ liegen im Verborgenen. Es gilt sie zur Entfaltung zu bringen und sichtbar werden zu lassen.

Beobachtungen

Manager*innen werden gerne nach Merkmalen bewertet, die den starken Leader ausmachen, den Kopf, der ein Rudel führt. Jemand der als aktiv, charismatisch und durchsetzungsstark beschrieben wird und gegebenenfalls Nebenbuhler kraftvoll aus dem Revier vertreibt.

Im Laufe meines Berufslebens als Manager und als Coach bin ich immer wieder Führungskräften begegnet, die ein sehr differenziertes Bild abgeben. Die einen zeigen ein offensives Auftreten und eine dominierende Präsenz. Sie ernten Glanz und Gloria und stehen immer in der ersten Reihe.

Die „Stillen“ gehen zwar manchmal etwas unter, aber sind häufig nicht so schwach, wie sie zu sein scheinen. Sie kennen die Stärken und Schwächen des Unternehmens aus dem Eff-eff. Sie halten die Hände über wichtige technische, kommerzielle und juristische Belange. Ohne sie und ihr profundes Wissen kommt die erste Führungsebene nicht aus. Trotzdem „leiden“ die „Stillen“ oft unter ihren Wesensmerkmalen. Es lässt sie weniger sichtbar in Erscheinung treten, was für Positionierung und Karriere hinderlich ist.

Wer still ist, hört mehr und wer zuhört, erfährt mehr

Die „Stillen“ oder Introvertierte beobachten mehr, als sich selbst in Worten oder Gesten zu artikulieren und auf sich aufmerksam zu machen. Man könnte sie wie folgt beschreiben: feinsinnig, abwartend, abwägend. Was sie sagen, hat länger gereift.

Diejenigen, die sich in den Vordergrund drängen, haben zweifelsohne ihre berechtigte Anhängerschaft. Sie sind Leader, denen man folgt, denen man abnimmt, dass sie gute Lösungen kennen und die wissen, wo es langgeht. Das heißt aber nicht, dass die „Stillen“ das nicht auch wissen. Ihre Art ist nur eine andere. Sie legen nicht gleich los wie mit der Axt im Walde. Sie nehmen sich Zeit, zuzuhören und zu spüren. Dadurch erfahren sie mehr, erfassen auch Dinge, die nicht offen zutage treten, lesen zwischen den Zeilen. Sie sind um das Erkennen von Zusammenhängen bemüht und treffen ihre Entscheidungen reflektiert. Schnellschüsse liegen ihnen nicht.

Ein weiteres Merkmal ist ihre stärkere Fokussierung auf das eigene Innenleben. Sie denken viel nach über Erlebtes und Erfahrenes. Werden solche Menschen zu intensiv einem sozialen Miteinander in großen Menschenansammlungen ausgesetzt, fühlen sie sich rasch gestresst, ausgelaugt und energielos. Es sind nicht die üppigen Treffen und Meetings, die sie anziehen, sondern ein kleiner Kreis guter Kollegen und Geschäftsbekanntschaften. Ihre Chancen liegen darin, in komplexen und vernetzten Beziehungsgeflechten solide, belastbare Kontakte aufzubauen und andere zu motivieren statt zu überrennen.

Wie die „Stillen“ an Schlagkraft und Performance gewinnen

Was ein Mensch an sich auszusetzen hat und als Schwäche empfindet, ist sehr persönlich. Aber man sollte wissen: „Eine vermeintliche Schwäche kann in einer bestimmten Situation zu einer großen Stärke werden. Und eine große Stärke gleichermaßen zu einem Stolperstein.“

Deshalb sollte man sich darum bemühen, Situationen und Handeln mit den eigenen Stärken in Einklang zu bringen. Keinesfalls zielführend ist es, andere kopieren oder eine Rolle spielen zu wollen, die einem nicht liegt. Es führt zwangsläufig zu innerer Zerrissenheit, die sich vor Dritten nicht verbergen lässt. Es wirkt nicht authentisch und der eigenen Persönlichkeit angemessen.

Wer an sich arbeiten möchte, dem seien folgende Schritte empfohlen:

  1. Machen Sie sich Ihre Wesensmerkmale und Stärken bewusst. Wie kommen Sie mit diesen Stärken und Merkmalen ans Ziel? Bauen Sie eine geeignete Strategie auf, die zu Ihnen passt und die ihre Talente ins Spiel bringt. Sie werden merken, dass man auf verschiedene Art und Weise sein Ziel erreichen kann. Sie entscheiden sich für den Weg, der Ihnen am besten liegt und zu Ihnen passt. Stehen Sie dazu und folgen Sie ihren inneren Leitlinien.

    Beispiel: eine temperamentvolle Person X neigt dazu, ihre Meinungsverschiedenheit gleich an Ort und Stelle klären zu wollen. Damit schafft sie nach einem Gewittersturm sofort wieder klare Luft und die Sache ist vergessen. Ihr Unterfangen birgt allerdings die Gefahr, dass sich die Fronten verhärten. Sind Sie eher ruhig und zurückhaltend, dann nehmen Sie sich die Zeit. Überdenken Sie alles in Ruhe. Schlafen Sie eine Nacht drüber, bis alle Emotionen verflogen sind. Am nächsten Tag kommen Sie in einem ruhigen Gespräch genauso zum Ziel und schaffen die Kuh vom Eis. Gleiches Resultat, aber ein anderer Weg.
  2. Lassen Sie andere reden und machen. Denn sie von deren Aufgeregtheit anstecken zu lassen, kostet Energie und lenkt ab. Fokussieren Sie sich auf sich selbst und setzen Sie lieber ab und an gezielte Aktionen. Nicht die Menge machts. Viel hilft nicht immer viel, aber das Richtige zum richtigen Zeitpunkt kann Sie weit nach vorne bringen. Statt einem Überbietungswettbewerb an argumentativen Schnellschüssen ist Hintergrundaktivität oftmals eine erfolgreichere Variante.

    Beispiel: In einem Meeting entfacht sich bei einigen eine intensive Diskussion über das weitere Vorgehen. Scheinbar geht es nur um die Sache. Tatsächlich aber geht es wie in den meisten Fällen um persönliche Interessen und um die eigene Motivlage. Sei es Sicherung von Einfluss, Bewahrung von Freiheiten, Gewinn an Kontrolle oder Dazu-gehören-wollen. Gelingt es Ihnen, die Motivlage relevanter Personen im Meeting herauszufiltern, können Sie Ihre Gedanken entsprechend aufbauen und verpacken. Gegebenenfalls äußern Sie sie erst zu einem Zeitpunkt, wo andere ihre Munition bereits verschossen haben oder das Thema zerredet ist. Es kann auch nach dem Meeting dafür noch früh genug sein. Es gibt Ihnen zudem Gelegenheit, entscheidende Unterstützer Ihrer Gedanken zu finden und hinter sich zu  vereinen. Aber auch, Ihre Kommunikation genau auf die relevanten Zielpersonen und deren Motivlage abzustimmen.
  3. Gönnen Sie sich zum Auftanken ab und an Zeit für sich. Selbstreflexion ist eine Stärke der „Stillen“. Sie gibt Raum und Zeit, Gedanken und Emotionen zu hinterfragen, zu sortieren und einzuordnen. Das richtige Mittel in Zeiten, wo Infos und Einflüsse nur so auf einen niederprasseln. Dadurch gewinnen Sie Klarheit, Orientierung und den Blick fürs Ganze. Sie lassen sich nicht so leicht von äußeren Umständen irritieren und fehlleiten.

    Beispiel: Suchen Sie sich einen Ort und eine Stunde aus, an der Sie ungestört Ihren Gedanken nachhängen, an dem Sie alles von verschiedenen Seiten aus beleuchten können. Wo Sie in Ruhe nachspüren, wo etwas nicht rund läuft. Vielleicht haben Sie sogar jemanden, der Ihnen hilft, nicht mit Ratschlägen, sondern mit klugem Spiegeln Ihrer Gedanken, jemand, der die richtigen Fragen stellt und Denkanstöße gibt. Der nicht immer nur „ja“ sagt und nickt, sondern Sie fordert und herausfordert, damit Sie am Ende mit einem guten Gefühl ein stimmiges Bild vor Augen haben.
  4. Akzeptieren Sie die Merkmale, die Sie als Ihre Schwäche wahrnehmen. Hinterfragen Sie, in welchen Situationen sie sich als Stärke erweisen. Jemand, der beispielsweise nicht sofort mit einer Idee daherkommt und länger überlegt, hat den Vorzug, besonnen reagieren zu können. Nehmen Sie sich die Zeit und sehen Sie es als Ihr Plus, dass Sie nicht gleich in eine Affektfalle tappen und loslegen, sondern abwägen und wohlüberlegt zu einem Entschluss kommen.

    Beispiel: Kollege X ist stets rasch mit seiner Meinung und Äußerung dabei, während Sie noch nachdenken. Sie empfinden es als Schwäche, dass Sie immer solange brauchen, bis Sie Stellung beziehen und aus der Deckung kommen.
    Diese vermeintliche Schwäche gibt Ihnen aber Gelegenheit, das Thema noch einmal von verschiedenen Blickwinkeln aus zu denken. Dazu gehört auch eine Konsequenzanalyse. Sie kann der komplexeste Teil eines Gedankengangs sein. Eine Entscheidung im Unternehmen hat meist nicht nur eine technische oder ökonomische Seite, sondern auch eine juristische, eine personelle, eine ökologische, eine zeitliche usw. Deshalb sind Blitzlichtmeinungen und Spontanentscheidungen nicht immer die besten Lösungen. Stehen Sie dazu, dass Sie es anders angehen. Ihre vermeintliche Schwäche ist doch hier gerade Ihre Stärke.
  5. Überprüfen Sie ihre persönlichen Ziele und Bedürfnisse. Eifern Sie nicht Zielen nach, die wider ihrer eigenen Natur sind. Macht und Gestaltungsfreiraum besitzt, wer wichtige Fäden in der Hand hält. Dazu muss man nicht zwingend der Schnellste oder gar der Lauteste sein.

    Beispiel: Eine starke Position hat jemand, der sich innerlich unabhängig macht von äußeren Umständen, der flexibel bleibt in Denken und Handeln. Empfinde ich Unterlegenheit oder Neid, weil jemand anderes erfolgreich war, kann es Kräfte freisetzen, aber auch zu einer inneren Gefangenschaft in negativen Gefühlen führen. Sie schränken die Wahrnehmung und Planungsoptionen ein. Denn negative Emotionen sind dafür verantwortlich, dass das Gehirn auf Kampf- oder Vermeiden schaltet und das Gesamtpotenzial einschränkt. Man macht sich abhängig von Umständen und anderen Menschen. Und Abhängigkeit heißt Machtlosigkeit.
    Eine starke Position ergibt sich darüber hinaus auch aus Wissen und Können sowie aus einem belastbaren Netzwerk aus Kollegen, Kunden, Lieferanten und Freunden. Das setzt Offenheit, Vertrauen und Erfahrung voraus. Diese Art von Stärke kann man sich in jeder Position und Verantwortlichkeit aufbauen. Je mehr jemand in seinem Thema ist und gleichzeitig über den Tellerrand hinausschaut, desto mehr kann er fachlichen aber auch strategischen Input leisten. Damit wird sogar eine starke Wirkung in Richtung der obersten Entscheidungsebene möglich. Das gilt beispielsweise für die Produktionsleitung, die ihren Input nicht nur im Bereich „Tagesgeschäft“ abgibt, sondern auch in Richtung „Wie sieht die Produktion von morgen aus“; für die HR-Leitung, die strategischen Input in Hinblick auf Kompetenzmix und zukünftige Arbeitsplatzgestaltung entwirft; oder für die Vertriebsleitung, die neue Strategien der IT-gestützten Kundengewinnung und Kundenbindung vorstellt usw.

Die Welt mag zwar in diesen Zeiten nicht für introvertierte und stille Menschen gemacht sein, aber gerade sie werden dringender gebraucht denn je. Schreihälse und Opportunisten gibt’s genug. Was fehlt sind Menschen mit Besonnenheit und Ruhe, die über den Tellerrand hinausschauen. Solche, die Ideen und Visionen entwickeln und sensibel sind für das, was um sie herum geschieht. Manager*innen, die sich durch Mut, Flexibilität, Kreativität und Vertrauen auszeichnen und die mit ihrer „Stille“ mitreißen.